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«Wer will, der kann»

Hani Ramadan, der Enkel des Begründers der Muslimbrüder, hält Mohammed Mursis Wahl zum ägyptischen Präsidenten für ein wichtiges Zeichen. Und er glaubt, der Islam könnte den Weg aus der Finanzkrise weisen.

Tagesanzeiger, 30 juin 2012

Interview: Benedikt Rüttimann

Was bedeutet die Wahl des Muslimbruders Mohammed Mursi zum ersten islamistischen Präsidenten des Landes für Ägypten?

Sie bedeutet, dass das ägyptische Volk eine wichtige Regel gelernt hat: Wer will, der kann. Es gibt noch viele Hindernisse auf dem Weg zu einer Demokratie in Ägypten. Die Auflösung des Parlaments durch die Militärs war ein klarer Verstoss gegen die demokratischen Regeln. Es ist aber auch ein Sieg für meinen Grossvater, den Gründer der Muslimbrüder, Hassan al-Banna. Er hat vor sechzig Jahren zu seinen Leuten gesagt: Die Regierung wird euch weiter verfolgen und bekämpfen, doch wenn ihr nicht aufgebt, werdet ihr eines Tages erfolgreich sein. Mursis Sieg hat eine grosse symbolische Bedeutung.

Kennen Sie Mursi persönlich?

Nein, aber ich habe mir seine Auftritte und seine Reden im Internetfernsehen der Muslimbrüder angeschaut. Er hat mich sehr beeindruckt. Er wollte nicht kandidieren. Man hat ihn regelrecht dazu gedrängt. In den Medien wurde immer behauptet, Mursi habe kein Charisma. Doch das stimmt nicht. Er ist selbstbewusst und beim Volk sehr beliebt. Er ist ein Mann, der mit dem Herzen spricht.

Früher wollten die Muslimbrüder in Ägypten einen islamischen Staat errichten. Was wollen sie heute?

Mein Grossvater forderte immer, den Volkswillen zu respektieren. Die westliche Gesellschaft hat zahlreiche Freiheiten errungen. Gleichzeitig hat sie aber aus unserer Sicht auch die normative Orientierung verloren. Ich stelle einen Verlust an spirituellen und moralischen Werten fest. Alles wird vom Materialismus bestimmt. Es zählt nur noch das Geld. Die Ägypter haben jetzt die Chance, die positiven Errungenschaften der westlichen Kultur mit den traditionellen islamischen Werten aus dem Koran und der Sunna, den Verhaltensweisen des Propheten Mohammed, zu versöhnen.

Welche Rolle soll die Scharia spielen?

Dass die Scharia eine wichtige Quelle der Gesetzgebung sein soll, steht schon lange in der ägyptischen Verfassung. Das ist für die ägyptischen Muslime nichts Neues. Die Anwendung der islamischen Gesetze widerspricht einer modernen Lebensweise nicht wirklich.

Viele Ägypter - darunter auch junge Muslimbrüder - wollen Religion und Staat trennen. Was spricht dagegen?

Die Trennung von Staat und Religion ist ein westliches Konzept. Das passt nicht in die islamische Zivilisation. Hier sind die spirituelle und die irdische Dimension untrennbar verbunden.

Die Türkei ist ein islamisches Land, in dem Religion und Staat weitgehend getrennt sind.

Jedes Land hat seine Eigenheiten. Die Türkei ist für mich kein vollkommenes Vorbild, das Land zeigt aber, dass der Islam mit den positiven Aspekten der Moderne vereinbar ist. Es ist ein interessantes Experiment. Die Türken sind sehr religiöse Muslime, und die türkische Armee, die sich lange als Hüterin des Laizismus verstand, scheint heute weniger Mühe zu haben, die islamische Identität des Landes zu akzeptieren. Die Zukunft wird zeigen, in welche Richtung sich die Türkei entwickeln wird.

Sind Demokratie und Islam überhaupt kompatibel?

Im Islam wurde der Mensch frei geschaffen. Doch die Menschen genügen sich nicht selber. Sie brauchen die göttliche Offenbarung, um sich zurechtzufinden. Der Islam respektiert den Volkswillen, aber dieser hält sich in einem islamischen Staat an die göttlichen Gesetze. Ohne höhere Norm sind die Menschen zahlreichen Auswüchsen ausgesetzt, kann der Volkswille in eine Diktatur münden, wie das Beispiel der Naziherrschaft in Deutschland zeigt.

Wie viel Demokratie wollen die Muslimbrüder in Ägypten?

Mursi hat wiederholt gesagt, er wolle eine zivile Regierung. Das bedeutet aber nicht eine Abwendung von den islamischen Werten. Viele Muslime sind überzeugt, dass der Islam auch für die übrige Menschheit ein ethischer und ökonomischer Kompass sein kann. Die islamischen Prinzipien könnten ein Ausweg aus der globalen Finanzkrise sein.

Und wie lässt sich der Islam mit den Menschenrechten versöhnen?

Die Menschenrechte sind fundamental. Sie sind zu respektieren. Doch wir Muslime glauben, dass auch die Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer wichtig ist. Die menschliche Vernunft braucht die göttliche Orientierung.

Was ist mit den Rechten der Minderheiten, etwa der Kopten?

Die ägyptischen Christen haben die gleichen Rechte wie alle anderen Ägypter.

Dann kann auch ein Kopte zum Präsidenten gewählt werden?

Sollte das Volk je einen Kopten zum Präsidenten wählen, dann wird Ägypten einen christlichen Präsidenten haben. Aber ich denke, ein islamischer Staat sollte einen muslimischen Präsidenten haben. Einen koptischen Präsidenten halte ich aufgrund der Mehrheitsverhältnisse für unwahrscheinlich.

Welche Rezepte haben die Muslimbrüder zur Ankurbelung der maroden Wirtschaft?

Das Land wurde bis jetzt von einer kleinen privilegierten Minderheit ausgebeutet, die sich unheimlich bereichert hat und gleichzeitig den grössten Teil der Bevölkerung verarmen liess. Wir müssen die Ressourcen neu verteilen. Es braucht eine Landreform. Ägypten könnte eine Kornkammer Afrikas werden, wenn der Boden richtig bewirtschaftet wird. Und wir sollten bei der Vermögensverwaltung die Regeln des Islam einführen. Die westliche Finanzwirtschaft hat zu einer weltweiten Verschuldung geführt. Das Kapital sollte produktive Werte schaffen und sich nicht einfach selber vermehren.

 

«Die Trennung von Staat und Religion ist ein westliches Konzept. Das passt hier nicht hin.»

Hani Ramadan

 

Der Imam (53) leitet das Islamische Zentrum in Genf. Sein Grossvater Hassan al-Banna schuf 1928 die Gemeinschaft der Muslimbrüder unter der Parole: «Der Islam ist die Lösung.»

 

© Tagesanzeiger/Bund 2012

 

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